Er rüttelt auf und legt den Finger in die Wunde: Christian Gansch, Dirigent, Produzent und Consultant, ist ein Mann deutlicher Worte, wenn es darum geht, Führungskräften den Spiegel vorzuhalten. In seinem Gastbeitrag erläutert er, was Unternehmen von Orchestern in puncto Talentmanagement lernen können:
Heutzutage suchen viele Unternehmen händeringend nach den besten Talenten. Wenn diese sich nach einer gewissen Einarbeitungszeit im Unternehmen bewiesen haben und als Talent gelten, erhalten sie oft die Chance, ein engagiertes internes Förderprogramm zu absolvieren. Den meisten Talenten wohnt ein gewisser Ehrgeiz inne, sie wollen lernen, sich profilieren, ihre Möglichkeiten selbstbewusst nutzen und sich finanziell verbessern.
Talente brauchen Freiräume
Aber bald kommen ihnen erste Zweifel, ob ihr Unternehmen tatsächlich ihre wahren Potenziale heben will. Nachdem sie aufgrund ihrer Begabung gerne über den Tellerrand schauen, beschleicht sie der Verdacht, dass das Förderprogramm mehr das Ziel verfolgt, sie linientreu in vordefinierte Aufgaben „hineinwachsen“ zu lassen, als Neues zu wagen. Am Ende stellen sie fest, dass ihr Berufsalltag ein enger Rahmen ist und weniger ihre Kreativität, als vielmehr die Pflichterfüllung innerhalb altbewährter Strukturen gefragt ist.
Orchester als Vorbild
Spitzenorchester rekrutieren hingegen im Hinblick darauf, dass junge Talente ungewöhnliche Akzente setzen und vertraute Stile aus neuer Perspektive betrachten. Schließlich soll der orchestrale Organismus nicht der Routine anheimfallen, sondern sich Kreativität und Neugierde bewahren. Auch wenn die Begabten anfangs auf Widerstand stoßen, wäre das Orchester enttäuscht, würden sie sich freiwillig anbiedern und beschränken. Man wünscht sich Talent plus Durchsetzungskraft.
Talente brauchen kompetente Führungskräfte
Laut einer Gallup-Studie aus dem Jahr 2016 haben 68 Prozent der Mitarbeiter „nur eine geringe emotionale Bindung“ an ihr Unternehmen. Darunter fallen sicherlich auch zahlreiche Talente. Die Ergebnisse dieser Studie ändern sich von Jahr zu Jahr nur minimal und zeigen, dass viele Workshops und Förderprogramme größtenteils ins Leere laufen.
Teamgeist darf Exzellenz nicht ersticken
Verantwortlich dafür sind engstirnige Führungskräfte, die die Begabten weder inspirieren noch fordern und fördern. Nicht wenige agieren auf Basis ihrer Sorge, dass manche talentierten Mitarbeiter vielleicht besser sind als sie selbst, sie also von ihnen bald in den Schatten gestellt werden. Gerade die Besten werden oft klein gehalten, sobald sie ihre Fähigkeiten einmal kurz haben aufblitzen lassen. Dafür sorgt auch ein hochgelobtes, aber im Grunde überstrapaziertes und bremsendes Teamideal, das herausragende Kräfte unterdrückt, damit die weniger Begabten nicht verunsichert werden.
Der Mittelstand macht’s vor
Das Fördern der Talente ergibt nur Sinn, wenn ihre Ideen im Alltag als Chance zur Erneuerung verstanden werden und nicht als Gefahr, alte und liebgewonnene Gewohnheiten und Strukturen aufgeben zu müssen. Führungskräfte dürfen keine Kleingeister sein, sie müssen die Begabten uneigennützig aufbauen. Viele erfolgreiche mittelständische Unternehmen leben diesen Geist, indem verantwortungsvolle Unternehmerinnen und Unternehmer die Besten bisweilen sogar ins kalte Wasser werfen, ihnen Verantwortung übertragen und Aufstiegschancen einräumen.
Aber je größer das Unternehmen, desto ausufernder und unübersichtlicher die Strukturen. Und desto intensiver ist offenbar auch das allgemeine Bestreben, einen Konsens auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu erreichen, der Talenten einen Maulkorb verpasst.
Internationale Top-Orchester setzen erstklassige Kräfte vom ersten Tag an auf verantwortliche Positionen, unabhängig vom Alter. Deswegen gibt es weltweit ein einjähriges Probejahr, damit sich diese Talente die erforderlichen sozialen Kompetenzen aneignen können, um ihre technisch-künstlerischen Potenziale im orchestralen Organismus überzeugend umzusetzen.
Talente verhindern Routine
Die hervorstechendste Eigenschaft von großen Künstlern ist, dass sie sich bei ihren jährlich 150 bis 200 Konzerten tagtäglich neu erfinden. Permanent ringen sie um das perfekte Konzert, denn sie haben verinnerlicht: Das Publikum von heute interessiert sich niemals für den Erfolg von gestern. Ihre ausgeprägte Konfliktbereitschaft und die Fähigkeit zur Selbstkritik ist das Fundament, ihre Visionen mit Leidenschaft anzupacken.
Auch im Orchester gewährleistet das interne Zulassen von Reibungen und Konflikten, dass die Musikerinnen und Musiker lebendig, motiviert und reaktionsfähig bleiben. Wenn Reibungen unterdrückt werden, führt das zu einem trostlosen Dienst nach Vorschrift, wofür man wahrlich keine herausragenden Talente mehr benötigt.
Talentmanagement braucht Offenheit
Daher sollte auch für Unternehmen gelten: Je weniger Reibung zugelassen und Vertrautes hinterfragt wird, desto schwächer der Geist der Inspiration und Innovation im Berufsalltag. Insbesondere die Talentiertesten werden sich dann frustriert abwenden und ein neues Unternehmen suchen.
Talente können sich nur entfalten, wenn sie innerhalb verbindlicher Strukturen die Chance bekommen, ihre Potenziale auszuleben. Wobei es ihnen gestattet sein muss, kritische Töne anzuschlagen, selbst wenn dadurch ursprüngliche Ziele nachjustiert oder sogar in Frage gestellt werden. Talentmanagement macht nur Sinn, wenn im Berufsalltag eine Unternehmenskultur der Offenheit dominiert, damit die Begabten zum Nutzen der Organisation ihre innovative Wirkung entfalten können.
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