2014 August 19

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Tim Cole: Vergeben 2.0 oder ein Algorithmus für das Vergessen

von Barbara Boesmiller

ECON Redner Tim Cole

Unsere Redner Tim Cole und Torsten Schwarz sind beide Experten für die Themen Internet und Social Media. Was also liegt näher, als dass der eine – Tim Cole – einen Beitrag zu einem Autorenbuch liefert, an dem der andere – Torsten Schwarz – gerade arbeitet. Einen Auszug aus seinem Text über das viel diskutierte „Recht auf Vergessen“ im Internet hat uns Tim Cole vorab zur Verfügung gestellt:

Im Mai 2014 fällte das höchste europäische Gericht, der EuGH, gegen Google ein Urteil (C-131/12), in dem es ein „Recht auf Vergessen“ postulierte. Es trug Google damit auf, auf Antrag des Betroffenen und unter bestimmten Umständen Links zu Websites zu löschen, durch deren Inhalt sich die Person gestört oder in ihren Menschenrechten betroffen fühlen könnte. Das Urteil – das selbst Datenschützer erstaunte – nimmt Suchmaschinenbetreiber also in die Pflicht, einen Link zu löschen. Dies auch dann, wenn der Name oder die Informationen auf der Zielseite im Internet nicht gelöscht wurden und gegebenenfalls auch, wenn ihre Veröffentlichung auf den Internetseiten als solche rechtmäßig ist.

Zur Vorgeschichte: Dem Spanier Mario Costeja González, der damals in Geldschwierigkeiten steckte, wurde 1998 ein gepfändetes Grundstück zwangsversteigert, damit er seine Schulden bei der Sozialversicherung bezahlen konnte. Das stand unter „Amtliche Mitteilungen“ in der Lokalzeitung. Dort ist die winzige Meldung in der Onlineausgabe des Blattes heute immer noch nachzulesen. Das störte den guten Senor González, der seine Finanzen inzwischen offenbar wieder in Ordnung gebracht hat.

Meldung weg – Link noch da!

Der Mann klagte sich durch die Instanzen, um Google zu zwingen, den Link auf die Zeitungsseite zu löschen. Nicht die Meldung selbst, wohlgemerkt, sondern nur den Link dorthin. Das hat womöglich weitreichende Folgen, denn das Urteil des EuGH könnte nicht nur das Geschäftsmodell von Google (und anderen Suchmaschinenbetreibern) in Europa wesentlich verändern. „Auch die Suchergebnisse könnten – jedenfalls in Europa – in Hinkunft deutlich ‚dünner‘ werden“, schrieb der Wiener Jurist und Universitätsdozent Hans Peter Lehofer in seinem Blog.

Tatsächlich haben die Oberrichter ganz offensichtlich nicht zu Ende gedacht. Jetzt kann nämlich theoretisch jedermann bei Google den Antrag stellen, Fundstellen zu löschen, die irgendwie mit ihm zu tun haben. Dabei ist es ganz egal, ob dieser Antrag berechtigt ist, also ob tatsächlich irgendein Persönlichkeitsrecht verletzt wird, oder nicht. Es genügt zu sagen: „Ich will das nicht“. Das heißt: Eigentlich hat Google ja das Recht, in jedem einzelnen Fall zu prüfen, ob dieser Wunsch nach Löschen einer Information gerechtfertigt ist oder nicht.

Google wird nicht prüfen, sondern löschen.

Aber Google wird das nicht tun, jedenfalls nicht auf Dauer. Dazu müsste die Firma eine Heerschar von Prüfern anheuern, die nichts anderes zu tun hätten, als jeden Tag Tausende von Anträgen anzuschauen, die Hintergründe (mit Hilfe der eigenen Suchmaschine?) zu recherchieren und anschließend zu entscheiden, ob gelöscht wird oder nicht. Und wenn nicht? Dann kann der Löschungswütige ja – ebenfalls theoretisch – die Gerichte anrufen und versuchen, Google zu zwingen, es doch zu tun. Was wird Google, das ja am Ende des Tages ein gewinnorientiertes Unternehmen ist, stattdessen tun? Klar: Sie werden einfach mehr oder weniger jedem Löschungsantrag entsprechen, und zwar ungeprüft! Alles andere wäre wirtschaftlicher Wahnsinn. Und wo, bitteschön, bleibt da die Wahrheit? Darf einfach jeder nach Gutdünken die Geschichte umschreiben?

Mein alter Freund Phil, der Erfinder des weitverbreiteten Verschlüsselungsprogramms „PGP“, schlägt einen „Algorithmus für das Vergessen“ vor. Auf die Idee kamen wir bei einem Gespräch über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns. Wir fragten uns, wie das Vergessen beim Menschen funktioniert. Unser biologisches neuronales Netzwerk ordnet Informationen eine bestimmte Wichtigkeit zu, abhängig von einer ganzen Reihe von Faktoren. Manchmal kommt unser Neuronennetz allerdings leicht durcheinander, zum Beispiel wenn es sich den Ort merken soll, an dem ich meinen Autoschlüssel liegengelassen habe, was mein Gehirn aber offenbar als völlig unwichtig einordnet. Meistens sind wir jedoch in der Lage, uns Ereignisse und Fakten zu merken, die für uns wirklich wichtig sind. Unwichtiges dagegen hat eine kürzere Halbwertzeit und wird deshalb irgendwann einfach aussortiert und in den mentalen Mülleimer des Vergessens geworfen…

Algorithmus für das Vergessen

Was wäre, fragten wir uns, wenn es einen intelligenten Algorithmus gäbe, der auf Google gespeicherte Daten gewichtet und ihnen eine bestimmte Halbwertzeit zuordnet, nach der sie automatisch gelöscht werden? Der Algorithmus müsste das besitzen, was Phil „human common sense“ nannte: Große, wichtige Ereignisse bekämen eine hohe Amplitude, triviale Fakten eine niedrige. Entsprechend eines solchen „relevance score“ könnte man dem Fakt eine bestimmte Lebensdauer zuweisen. Danach würden als unwichtig eingestufte Informationen sozusagen verwesen und letztendlich aus der Datenbank verschwinden. Als wichtig eingestufte Informationen bekämen eine längere Ablauffrist oder würden niemals gelöscht. Informationen über einen Massenmörder oder Kinderschänder dürfen zum Beispiel niemals gelöscht werden, die Informationen über einen Strafzettel, den ein Führerscheinanfänger in seiner jugendlichen Dummheit bekam, sollten ihn nicht sein ganzes Leben lang verfolgen können.

Die Tugend des Vergebens, Version 2.0

Es gibt hier eine interessante Parallele zu dem gesellschaftlichen Phänomen des Vergebens: Die Fähigkeit, etwas zu verzeihen, ist unmittelbar mit der zeitlichen Distanz zum Geschehen verbunden: Alte Veteranen verbrüdern sich nach Jahrzehnten mit ihren Gegnern, die sie seinerzeit nach Kräften versucht haben umzubringen. Die meisten Straftäter werden nach dem Verbüßen ihrer Haft als freie Menschen entlassen, unbelastet durch die alte Geschichte, die sie überhaupt ins Gefängnis gebracht hat. Okay, es gibt hier noch eine Menge Details zu klären. Wer legt fest, nach welchem Scoring-System Informationen gewichtet und bewertet werden? Wessen Vorstellung von „common sense“ dient als Richtlinie? Wer kann Einspruch einlegen, und was geschieht dann?

Menschenwürde als Algorithmus?

Aber das sind nur Details. Für die meisten der zu erwartenden Millionenflut von Löscheinträgen, denen sich Google demnächst gegenübersehen wird, dürfte ein recht einfach gestrickter Algorithmus genügen. Unser gesunder Menschenverstand sagt uns jedenfalls, dass schon mehr zu einem Recht auf Vergessen gehören muss als eine simple Befindlichkeit: Nur weil mich eine Information stört, selbst wenn sie wahr ist, sollte ich sie nicht verschwinden lassen können. Dazu müsste es eine härtere Prüfungsstufe geben, nämlich die Frage: Bin ich durch die Veröffentlichung dieser Information in meiner Menschenwürde beeinträchtigt? Wie gießt man Menschenwürde in einen Algorithmus? Ich denke, bis wir diese Frage abschließend beantworten können, müssen wir als Einzelne und als Gesellschaft noch lange und angestrengt nachdenken. Aber immerhin: Es ist ein Anfang!

 

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