Die Lage in der Ukraine wird immer unübersichtlicher – es gibt Kämpfe zwischen der Armee und den Separatisten im Osten des Landes, Russland macht die USA und die EU für die Eskalation verantwortlich. Von einer Entspannung oder Beruhigung der Situation kann also keine Rede sein. Neben den politischen Auswirkungen der Krise stellt sich immer mehr auch die Frage nach wirtschaftlichen Folgen. Darüber haben wir mit unserem Redner Markus Gürne gesprochen, der lange als Auslands- und Sonderkorrespondent der ARD im Nahen Osten und Südasien tätig war und heute die ARD-Börsenredaktion leitet.
Markus Gürne, der IWF prognostiziert wegen der Krise ein veritables Wirtschaftstief für Russland. Teilen Sie diese Einschätzung?
Definitiv. Die russische Wirtschaft war schon vor der Krise nicht besonders stabil. Sie entspricht von ihrer Größe her etwa der Frankreichs, aber sie ist eben fragil und anfällig und immer noch im Aufbau begriffen. In diesem Zustand trifft die Ukraine-Krise die russische Wirtschaft mit großer Wucht.
Zudem hat sich eine Abwärtsspirale in Gang gesetzt, die merklich an Geschwindigkeit zunimmt. So sind in den ersten drei Monaten des Jahres 2014 über 50 Milliarden Dollar ausländisches Kapital aus Russland abgeflossen, im ganzen Jahr 2013 waren es 63 Milliarden Dollar. Außerdem verliert auch die russische Währung, der Rubel, weiter an Wert. Das ist schon seit geraumer Zeit so, auch vor der Ukraine-Krise, aber die befeuert diese Tendenz. Unter dem Strich bedeutet das weniger Kaufkraft in Russland, weniger ausländische Investitionen, die Russland aber dringendst braucht.
Und für Deutschland und die EU: Hat die Ukraine-Krise für beide tatsächlich spürbare wirtschaftliche Folgen?
Sowohl für die EU als auch vor allem für uns als Land, dessen Wirtschaft in einem hohen Maße vom Export lebt, ist die aktuelle Situation schwierig. Schon sind erste Tendenzen vor allem bei der Großindustrie erkennbar, die sich mit einer möglichen Verlagerung von Produktionsstätten aus Russland in andere Länder beschäftigt. China und Indien sind da zu nennen.
Für mittelständische Unternehmen ist das schwieriger. Sie haben sich einst gezielt für Russland als Investitionsstandort entschieden und können nun nicht einfach verlagern. Es gibt bereits Lieferprobleme im Landmaschinenbereich. Einige mittelständische Unternehmen aus Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen haben Aufträge aus Russland und der Ukraine. Sie haben Maschinen im Gegenwert von Millionen Euro gebaut und bekommen diese nun weder dorthin geliefert noch bezahlt. Jetzt sitzen sie auf den Maschinen und können sie kaum weiterverkaufen. Damit ist die Krise, die so weit weg scheint, schlagartig bei uns angekommen. Bei den Unternehmen, bei der Belegschaft und deren Familien, die spätestens dann betroffen sind, wenn der deutsche mittelständische Betrieb den Ausfall nicht auffangen kann. Diese Szenarien dürften sich, je länger und größer diese Krise wird, in Anzahl und Auswirkungen wiederholen. Das wird uns noch sehr beschäftigen.
Und es gibt noch einen wichtigen Punkt, der uns allesamt in Europa betrifft. Wir sind mit der Eurokrise zwar auf gutem Wege, aber noch lange nicht über den Berg. Die Inflation des Euro ist zu niedrig, in vielen Staaten Südeuropas ist es nach wie vor schwierig, und vergessen wir nicht, dass es immer noch einige Staaten mit enormen Schuldenständen gibt. Die Ukraine-Krise hat das Zeug dazu, die europäische Wirtschaft so abzuwürgen, dass die Schuldenkrise mit einem Schlag wieder voll da ist.
Vielen bereitet vor allem die Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energielieferungen Sorge. Ihnen auch?
Aus den eben genannten Gründen machen mir die Drohungen aus Moskau, ausländischen Investoren Zugang zu ihren Produktionsstätten zu verweigern und Konten zu sperren, mehr Sorgen. Die sind wenig hilfreich. Wer investiert schon in ein Land, wenn so gut wie keine Rechtssicherheit mehr vorhanden ist? Das würde, so denke ich, die russische Wirtschaft nicht überleben.
Zu Ihrer Frage nach der Energie: Das ist ein Problem, ein großes. Und ein hausgemachtes. Wir könnten den Ausfall von russischem Öl und Gas nicht auffangen. Weder mit stärkeren Lieferungen aus Norwegen noch aus den Golfstaaten. Nun fällt uns auf die Füße, dass wir uns bei der Energiepolitik von Russland abhängig gemacht haben. Aber Sorge habe ich nicht. Russland braucht aus den oben genannten Gründen die Devisen sehr, sehr dringend. An der Stelle wird sich Moskau sehr genau überlegen müssen, ob der Preis – nämlich Energielieferungen einzustellen – nicht zu hoch ist. Nach aktuellem Stand und nach all meinen persönlichen Erfahrungen im jahrelangen Einsatz in Krisengebieten und auch mit russischer Politik in diesen Ländern kommt bei mir diesbezüglich noch keine Sorge auf.
Und: Der Westen hat mittelfristig einen Joker in der Hand, auf den Moskau keinen Druck mehr ausüben kann und der selber ein großes Interesse hat, wieder eine Rolle auf der internationalen Bühne zu spielen – den Iran. Das Land hat nach Russland die zweitgrößten Öl- und Gasvorkommen und ist im Begriff, den jahrelangen Atomstreit zu lösen. Die Mullahs sehen es als Chance an, in der Rohstoff-Frage in Konkurrenz zu Russland zu treten und dem Westen ein Geschäft vorzuschlagen.
Diesbezüglich offenbart die Ukraine-Krise neue Koalitionen und Möglichkeiten – manche hatte der Kreml sicher nicht auf der Rechnung.
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